Visionszeit

Man braucht Abstand? Es zeigt sich kein Plan? Das Leben ist festgefahren? Zeit für eine „Visionszeit“!

Eine solche Zeit verbringt man ganz allein für sich über mehrere Tage in der freien Natur. Über die Wirksamkeit entscheiden dabei weder Dauer noch Entfernung, sondern einzig und allein die innere Haltung und Vorbereitung. Man benötigt einen mit Bedacht ausgesuchten Ort, der Kraft ausstrahlt. Ideal sind Wälder und Flüsse. Aber Achtung! Mücken, Wandergruppen und Bauern bei der Arbeit können eine Visionszeit komplett ruinieren!

 

Wenn es dann losgeht, sollte nur eine extrem minimierte Ausrüstung mitgenommen werden: Wasser (kein Essen!), eine Plane falls es regnet, Strick für die Plane, Schlafsack, Toilettenpapier, etwas Wechselwäsche. Dazu vielleicht Schreibzeug, Messer, Instrument, Räucherzeug oer Ähnliches, auf keinen Fall Bücher, Handy, Spielkram. Je weniger, umso intensiver. Es geht nicht um Camping oder Survival.

 

Das Fasten unterstreicht die Reduktion, reinigt und erhöht die Ansprechbarkeit auf feinere Reize. Hinweis: In der Regel finden Visionszeiten in Gruppen statt und werden professionell betreut. Man kann dies aber auch im Alleingang unternehmen, sollte dann aber zwingend eine Person bitten, sich Tag und Nacht bereit zu halten, falls einem etwas widerfährt. Hier ist ein vollständig(!) ausgeschaltetes Handy vielleicht die einzige Möglichkeit der Notkommunikation.

 

Am ausgewählten Ort legt man einen Bereich von etwa zehn bis zwanzig Metern Durchmesser fest, in dem man sich die nächste Zeit aufhält (ausgenommen ist der Gang zur Toilette).


 

Diese „nächste Zeit“ sollte minimal einen Tag und eine Nacht umfassen, idealerweise aber drei Tage und Nächte oder sogar länger. Hat man seinen Ort etwas eingerichtet, dann ist schon alles getan. Von jetzt an wartet man, was passiert. Am ersten Tag wird man sich vielleicht langweilen, Entzug erfahren, die Frage nach dem „Warum“ stellen. Der innere Dialog ist in vollem Gang, stört das Fühlen. Es geht darum, die Zivilisation abzulegen. Die erste Nacht geht möglicherweise mit Ängsten einher, man muss sich völlig anvertrauen, vielleicht um Schutz bitten, beten.

 

Es wird Wut, Zorn, bitterliches und erlösendes Weinen geben, aber auch Erkenntnis, Spüren der eigenen Größe, Begegnung mit dem inneren Kind, es wird lustig, laut, still und traurig... Niemand kann vorhersagen, was passiert. Es ist eine Zeit der Akzeptanz, des Loslassens, der Vergebung, vielleicht auch der Abgrenzung, Verbindung usw. Je länger es dauert und je weniger man „tut“, umso intensiver werden die Prozesse.

 

Nach der letzten Nacht sollte es jemanden geben, der einen empfängt! Mit einem guten ausgiebigen Essen und Wärme. Mit ihm kann man dann ein Ritual machen, schweigen, erzählen. Alles, was jetzt gut tut, ist willkommen.

 

Nach der Rückkehr ins Leben, für die man sich unbedingt noch zwei bis drei Tage gönnen soll, wird man schichteweise merken, was sich geändert hat und in der Zeit danach erstaunt feststellen, was sich noch so alles im Außen und Innen tut. So gesehen ist es dann doch eine Visionszeit – auch ganz ohne die „große Vision“.

 

Matthias Ristow

 

 

Bild zur Meldung: © Benjamin Balazs auf Pixabay