Von Ich-Insel zu Ich-Insel

„Ich vermisse die kleinen Gespräche im Büro“, so Herr M. in einer Psychotherapiesitzung. Wie er vermissen wir in der Coronakrise alle etwas. Egal ob es die Skatrunde, die Sportgruppe oder der Gottesdienst ist - ob Sauna, Kino oder Theater. Und wir verbringen viel Zeit mit homeoffice, homeschooling oder mit nichts, da wir kurzarbeiten. Oft sind wir dabei alleine, Kontakte sind rar und wenn, dann begegnen wir uns draußen mit Abstand oder Maske.

 

Alle Mitmenschen, selbst Familie, FreundInnen und NachbarInnen, stellen plötzlich eine Bedrohung dar. Hustende im Supermarkt werden kritisch beäugt. Nur Abstand bringt Sicherheit - und führt zugleich zur Vereinzelung. Der Abstand im Außen vergrößert den inneren Abstand. Wir gehen auch innerlich auf Distanz. Das Abstandhalten ist eine Trennungspraxis: Wir üben Trennung 24 Stunden an 7 Tagen die Woche. Dies fördert unsere unbewusste Tendenz, uns als getrennt von allem und jedeR zu erleben und uns in der Irrung der Isolation einzurichten: Ich auf meiner Insel-Ich und die nächste Ich-Insel im sicherem 2-Meter-Abstand. Wir erleben uns im Social Distancing nicht nur getrennter von unserem Gegenüber, sondern oft auch von uns selbst. Müdigkeit, Antriebslosigkeit oder Gefühle von Einsamkeit machen sich breit.

Was kann da helfen?


Frau U. machte schon länger Yoga, als sie wegen einer Trennung eine Psychotherapie begann.

Der Lockdown machte ihr zusätzlich zu schaffen. Für die jetzt alleinlebende Fachverkäuferin in der Innenstadt war die Kurzarbeit eine Überforderung – so viel Zeit und nichts zu tun. Sie machte sich viele Gedanken, und dieses Kopfkino verdunkelte ihre Stimmung.

 

Mit ihrer Yogaerfahrung fanden wir einen Kopfkino-Pauseknopf. Durch eine Achtsamkeitsübung lernte sie, mit innerem Abstand auf die vielen negativen Gedanken zu schauen. Das machte sie ruhiger.

 

Und wir erarbeiteten eine Tagesstruktur - denn Arbeit, wenn auch manchmal ermüdend, strukturiert unseren Tag. Frau U. begann, wie gewohnt aufzustehen. Sie füllte die Tage mit Nützlichem, wie die Abstellkammer aufzuräumen, und Schönem: Sie entdeckte alte Filme für sich und spazierte täglich im Park.

 

Neben Achtsamkeit und Tagesstruktur sind nährende Tätigkeiten eine weitere Möglichkeit, um aus dem Kopfkino auszusteigen und die schlechte Stimmung abzuschütteln. Oft hilft dabei eine Prise Kreativität, um die Vorhaben anzupassen oder überhaupt erst auf neue Ideen zu kommen. Herr M. verband das Feierabendbier – später den Ingwertee – damit, mit einem Freund zu skypen und entdeckte so neue Wege aus seiner Kontaktarmut. Die Lösung für die fehlenden Bürokontakte fand er darin, sich zweimal pro Tag mit seinen Kollegen für ein kurzes Videogespräch zu verabreden: Sie nannten es „Teeküchen-Zeit“.

 

Steffen Brandt

 

 

Bild zur Meldung: © Anete Lusina auf Unsplash.com