Gelebtes Mitgefühl

In allen Religionen und spirituellen Traditionen spielt das tätige Mitgefühl als Karma Yoga, Seva oder Nächstenliebe eine Rolle. Die Bedeutung der Religionen und Traditionen hat zwar nachgelassen, doch es gibt heute eine Erstarkung und einige Forschungsergebnisse zu einer mitfühlenden spirituellen Praxis.

 

Mitgefühl - Verbundenheit und Fürsorge entwickeln

 

Das Fehlen von Fürsorge und Liebe in der Kindheit und negative Lebenserfahrungen führen dazu, dass Mitgefühl blockiert wird und sich nicht frei entfalten kann. Dass dies jedoch nicht so bleiben muss, davon sind sowohl die positive Psychologie als auch die moderne Hirnforschung überzeugt. „Mitgefühl können wir trainieren“, sagt die Neurobiologin und Psychologin Tania Singer, die mit ihren Forschungen am Max-Planck-Institut dem Mitgefühl eine größere Aufmerksamkeit verschaffen und damit die Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft fördern will. Bereits nach einem einwöchigen Mitgefühlstraining könne man bei den Teilnehmer:innen einen Zuwachs an Mitgefühl nachweisen und messen.

 

Mitgefühl ist nicht nur die Fähigkeit, das Leid anderer zu erspüren, es löst auch den Wunsch in uns aus, dieses Leid zu beenden. Denn das Mitgefühl motiviert uns dazu, die Rechte anderer Menschen zu schützen und uns für Schwächere einzusetzen. Es fördert Solidarität und Kooperation und führt aus der inneren Isolation in die Erfahrung der Verbundenheit. Wir entwickeln ein Bewusstsein dafür, dass wir Teil einer globalen Familie sind und daher Verantwortung für das Ganze tragen. Wir erkennen, dass wir uns in einem weltumspannenden Beziehungsnetz befinden, in dem alles, was in diesem Netz geschieht, Auswirkungen auf jeden von uns hat. Diese Erkenntnis der Verbundenheit und gegenseitigen Abhängigkeit ist die Grundlage dafür, Solidarität und auch Fürsorge für vermeintlich Fremde entwickeln zu können. 

 

Der Benediktinerbruder David Steindl-Rast gibt die Formel der Verbundenheit mit auf den Weg: „Blicke einem Fremden in die Augen und erkenne, dass es keine Fremden gibt.“

Es bedarf einer bewussten Entscheidung, Mitgefühl zu aktivieren und zu entwickeln, sonst bleibt es fragmentiert und auf die engsten Bezugspersonen begrenzt. Zuneigung für Familienangehörige und Freunde zu empfinden, fällt nicht schwer, doch können wir die Zuwendung auf fremde Menschen ausdehnen? Die Fähigkeit dazu ist heute wichtiger denn je. Hierfür lehren vor allem die östlichen Weisheitswege Geistesschulung und Kultivierung des Herzens. Sie lehren uns, wie wir die Meditation zur Aktivierung von liebender Güte und Mitgefühl einsetzen können, und wie wir uns selbst mit Herzenswärme erfüllen können, um diese dann der Welt zu geben.

 

Mitgefühl - Geben ist nährend 

 

„Tätiges Mitgefühl“ nannte Albert Schweitzer das Engagement des Herzens, sich nicht vor dem Leid zu verschanzen, sondern sich diesem aktiv zuzuwenden. Hierfür ist es erforderlich, die eigene Komfortzone zu verlassen. Konkret könnte dies bedeuten, das Leid anderer nicht nur aus der sicheren Entfernung des heimischen Bildschirms zu verfolgen, sondern in das nächstgelegene Flüchtlings- oder Kinderheim zu gehen und den Menschen vor Ort zur Seite zu stehen. Hier begegnen wir nicht nur großer Not, wir begegnen vor allem Menschen. Wir erfahren von ihrem Schicksal und erkennen, dass dieses mit etwas weniger Glück auch unser eigenes sein könnte. Dadurch entstehen Nähe und Verbundenheit und mit diesen die Frage des mitfühlenden Herzens: „Was kann ich tun, um dein Leid zu lindern und dein Glück zu fördern?“
 

Die Weisen aller Traditionen lehrten es schon immer und die aktuelle Glücksforschung bestätigt es: Indem wir das Glück anderer fördern, werden wir selbst glücklich. Indem wir anderen helfen, helfen wir uns selbst. 

 

Lydia Poppe

 

 

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