Mittlere Reife

Plötzlich ist es soweit und ich finde mich erneut wieder in einem Prozess des Wandels. War das nicht erst gestern? Als wir nach der Abi-Feier voller Freude und Kraft uns hinein gestürzt haben in das Getümmel, das sich Leben nennt? Endlich erwachsen! Endlich das eigene Auto, vollgepackt mit Kartons auf dem Weg in die erste WG, um fernab der Blicke unserer Eltern das Leben aufzusaugen und zu probieren. Es schmeckte herrlich, diese große Freiheit selbstbestimmten Lebens. Ihre Leichtigkeit auf der Haut spürend, bereisten wir die Welt und gingen ab und zu den Pflichten unseres Studiums nach. Die Welt veränderte sich vor unseren Augen oder veränderten wir uns?

 

Und dann steht meine Tochter vor der Tür, um mir mitzuteilen, dass sie heiratet. Ups! Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen? - Ich blicke auf meine Eltern, deren Kraft zunehmend schwindet. Ist das auch mein Weg? Ist es nicht möglich irgendwo rechts abzubiegen, um dem Kreislauf des Lebens zu entkommen? - Viele Fragen gehen mir durch den Kopf, während ich den Spagat zwischen Fürsorge meinen Eltern gegenüber einerseits und Unterstützung meiner Tochter andererseits versuche. 

 

Über den Tod nachdenken

 

Meine Eltern sind Mitte Achtzig. Sie sind fit! Trotzdem werden sie gehen und ich weiß jetzt schon, dass ich sie beide vermissen werde. Wer geht zuerst? Wer muss den Schmerz der Einsamkeit ertragen? Wie wird das bei mir sein?

Mein Denken ändert sich, mal wieder! Ich denke über den Tod nach. Ich beginne zu reduzieren und selektieren, was mir wirklich wichtig ist. Ich miste aus in meinen Gedanken, in meinen Schränken, in meinem Leben. Ich verstehe zunehmend Menschen nicht, die ihr Leben mit Streiten verbringen oder wie Seegras vor sich hin atmend ihr Leben vergeuden. 

 

Ich schaue in den Spiegel und zwinkere mir zu. Wenn ich meine Tochter wäre, wäre ich stolz auf meine Mutter.

 

Im Moment meiner Gedanken verhaftet, klingelt das Telefon:“……Mama, kannst du mir helfen? Ich habe einen neuen Job in Aussicht. Kannst du mir das Bewerbungsschreiben korrigieren? Und sagst du bitte Oma, dass ich am Samstag mit ihr einkaufen fahre? Ich erreiche sie gerade nicht. Ich bin morgen auf Geschäftsreise und muss noch packen.“

 

Wieder blicke ich in den Spiegel, lächle mir zu. Der Daumen geht nach oben. “ Allet schick!“. Was jetzt genau? Das Leben, der Wandel, der Fluss, die Steine……einfach Alles!

 

Ich ziehe meinen Mantel an, schwinge mich aufs Fahrrad und radle voller Neugier dem entgegen, was man Leben nennt - meiner 40 Jahre Abi-Feier. Ich werde diejenigen treffen, die wie ich ihre Rostkarre gepackt haben – voller Freude, Neugier und Hoffnung, nichtsahnend, dass sich eines Tages die Weisheit dazu gesellen würde.

 

Gabriele Oppermann

 

 

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